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Meine kürzeste Nacht

Die Sonnenfinsternis am 11.8.1999


von Bruno Wagner


Die Vorbereitungen

Lange schon hatten mich die Berichte über Sonnenfinsternisse fasziniert, besonders wie tief dieses Erlebnis die Augenzeugen berührte. Aber dafür extra um die Welt zu reisen, nein, soweit wollte ich nicht gehen. Zumal ja schon seit Jahren bekannt war, wir würden eine totale Sonnenfinsternis direkt vor der Haustür erleben können.

Aus vielen Berichten war bekannt, zur entspannten Beobachtung der partiellen Phase sollte man am besten eine Pappbrille mit sicheren Folienfiltern haben. Nach ersten Schätzungen haben wir dann für die AVWM und das Max-Born-Gymnasium 1100 Brillen bei Thousand Oaks in USA bestellt. Versehentlich wurden dann 5000 hergestellt und an uns ging die Frage, ob wir nicht doch noch höheren Bedarf hätten? Natürlich nicht! Doch dann gab es Anfragen von weiteren Schulen, Freunden, Kollegen. So haben wir dann nach und nach alle nachbestellt und auch verkauft, mußten kurzfristig sogar etwas Sorge haben, für Zufallsbesucher zuwenig zu haben.

Schon letztes Jahr begann die Suche nach dem richtigen Standort. Nahe der Zentrallinie sollte er sein, denn mit knapp über zwei Minuten gehört "unsere" SoFi zu den kürzeren. Freie Sicht nach Westen, vielleicht von einem erhöhten Standort, sollte er bieten. Den heranrasenden Kernschatten wollten wir sehen können. Und Straßenlampen wollten wir auch keine im Blickfeld haben. Platz genug, daß sich Fotografen und visuelle Beobachter nicht ins Gehege kämen, wollten wir auch haben.

So hat der Manfred die Zentrallinie in genaue Karten eingezeichnet und war zwei Wochenenden unterwegs. All den hohen Ansprüchen wollte aber kein Standort genügen. Außerdem wuchs und wuchs die Zahl der Interessenten. Mit geringen Abstrichen an die Totalitätsdauer ist so ein Finsternisstreifen dann doch erstaunlich breit. Speziell südlich der Zentrallinie nimmt die Dauer durch eine leichte Eiform des Mondes nur langsam ab. Willi hat uns dann auf den Flugplatz in Gröbenried eingeladen, wo er Mitglied im Aero-Club Dachau ist.

Dort wurden wir äußerst gastfreundlich aufgenommen und konnten den Platz, das Vereinsheim und seine Einrichtungen nutzen, als wären wir dort zuhause. Dass das vor Ort so reibungslos geklappt hat, ist das Verdienst von Willi. So hielt sich unser eigener Organisationsaufwand für die Finsternisveranstaltung in Grenzen. Manfred und seiner Familie gehört der Dank für die hervorragende Verpflegung.

Hoffen und Bangen

Noch am Tag der Finsternis habe ich meine Diktiergerätnotizen und Erinnerungen zu einer Reportage verarbeitet. So authentisch wie sie ist, sei sie hier abgedruckt.

Freitag, 6.8. Die Wettervorhersage erwartet für die Nacht vor der Finsternis einen Tiefausläufer, der an den Alpen hängenbleiben soll. Danach soll sich ein Keil des Azorenhochs wieder zu uns ausbreiten. Gut, fünf Tage im Voraus sind Prognosen noch recht ungenau. Vielleicht tritt wie so oft eine Wetterentwicklung ein wie vorhergesagt, nur etwas später.

Samstag, 7.8. Immer noch rät man uns, im Saarland und der Pfalz wären die Chancen besser. Aber schon für 14:00 Uhr ist die Wolkenwahrscheinlichkeit auch bei uns drastisch geringer. Vielleicht ist der Tiefausläufer ja etwas schneller oder schwächer?

Sonntag, 8.8. und Montag, 9.8. Jetzt ist auch die Hoffnung auf den Nachmittag dahin.

Dienstag, 10.8. Laffy, Joe, Willi, Manfred und ich treffen uns bei Dauerregen zur Generalprobe in Gröbenried. Wir bringen die Kameras zum Laufen, justieren die Optiken fluchtend und stellen eine Übertragung zur ESA her. Der Wetterbericht macht Südostbayern Hoffnung auf ein verzögertes Eintreffen des Tiefausläufers. Aha! Könnte sich der vielleicht noch weiter verspäten?

Abends rufen Herbert Gubo von der AG Buchloe und Peter Kohlstruk an, um für unsere Veranstaltung in Gröbenried abzusagen. Herbert will morgens ins Badische fahren, Peter nachts nach Ungarn flüchten. Ein wenig wehmütig wünsche ich beiden viel Glück.

Mittwoch, 11.8.1999, Der Tag mit der kürzesten Nacht

Der Wecker steht auf 6:30 Uhr. Um 6:00 werde ich wach, bin schon unruhig. Herumgedreht, ein Blick aus dem Fenster. Klarer Himmel, keine Wolke. Naja, das ist Norden, aber wie ist es im Westen? Da ist sie leider, die angekündigte Schlechtwetterfront. Hätten wir doch fortfahren sollen?

6:30 Uhr, ein erster Blick auf die Sonnenfinsternisseiten des DWD. Noch keine Bilder vom Tag und die Vorhersage von gestern. Also zum Fernseher. Im ZDF grinst mich blöde Cherno Jobatey aus Stuttgart an mit Gletscherbrille (!) auf die Stirn geschoben (!!) und führt einen Sonnentanz (!!!) auf. Also weitergezappt. Aber nirgendwo detaillierte Vorhersagen. Um Sieben dann. Die ZDF-Wetterfee zeigt ein erstes Satellitenfoto. Gelb eingekringelt ein Wolkenbatzen an der Grenze Bayern / Österreich. Den hatte der Wettercomputer nicht auf der (Modell-) Rechnung. Und der bremst jetzt die heranziehende Front! Genau das wollte ich hören!

Während des Frühstücks nochmal kurz ins Web geschaut. Viele Wolken, aber in Südbayern noch gut. Ich hol´ die Brumi vom Speicher und fahre los. 100 Brezen beim Bäcker eingeladen, 100 Weißwürscht und 300 Wiener vom Metzger geholt und rauf auf die Autobahn Richtung München und weiter über die B471 Richtung Dachau.

Der Berufsverkehr fließt wie sonst auch, wenig fremde Kennzeichen sind dabei, der Massenansturm nimmt wohl andere Wege. Der Wetterfrosch in Bayern 3 spricht von einem begünstigten Dreieck Kempten – Holzkirchen (?) – Berchtesgaden. Eine günstige Prognose auch für München traut er sich nicht. Immer noch scheint überwiegend die Sonne.

So um Neun treffe ich in Gröbenried ein, wo Manfred mit Famile schon das Buffet aufgebaut hat. Laffy und Joe haben ihre Anlagen unter einem Sonnen(?)schirm schon am laufen, nur der Link zur ESA steht noch nicht. Manfred stellt das Doppelfernrohr aufs Vorfeld, daneben baut der Matthias seine Russentonne auf einer Holzmontierung auf. Ich verstecke meinen Refraktor halb unter dem Dach und bringe die Brumi zum Laufen. Die Vereinsmontierung steht bereit und soll später Peters Maksutov tragen.

So um halb Zehn ziehen immer mehr Wolken auf, viertel nach Zehn tröpfelt es, gleichzeitig aber ist Richtung Sonne ein Wolkenloch. Wir sind etwa 15 Personen, auf dem Parkplatz treffen zunehmend Autos ein. Ein Blick im "Computerraum" auf die Homepage der ESA zeigt, die Seite zieht soeben auf einen leistungsstärkeren Server um, bis zum Finsternisbeginn ist ja noch eine ganze Stunde Zeit.

Es ist halb Elf. Die Wolkenlöcher werden größer, erlauben uns nun einen Blick durchs Fernrohr. Links unterhalb der Sonnenmitte sind drei größere Fleckengruppen mit vielen winzigen Flecken zu sehen. In der folgenden Viertelstunde steigt mit jedem Wolkenloch die Laune der jetzt etwa zwanzig Leute.

Die Show beginnt

11:07 Uhr. Nach einer Wolkenpause wieder ein längerer Blick zur Sonne. Den ersten Kontakt dürfen wir noch mit leichten Wolkenunterbrechungen erleben, fünf Minuten später haben wir wieder Zwangspause. Etwa vierzig sind wir jetzt und es sieht so aus, als würden die Löcher in den Wolken deutlich mehr.

11:32 Uhr. Nun hat der Mond die Sonne schon zu einem Viertel angebissen. Tonlage und Redetempo auf meinem Diktiergerät steigen an. Die immer größeren Lücken geben den Blick frei auf wahre Wolkengebirge, unten schwarz, oben weiß leuchtend im Sonnenlicht, darüber schweben einige faserige Wolken.

11:58 Uhr. Das nächste Loch bietet ein spannendes Schauspiel auf der Sonne. Der deutlich zackige Mondrand frißt einen Sonnenfleck nach dem anderen auf. Die Bewegung ist tatsächlich wahrzunehmen. Im Westen öffnet sich ein riesiges Wolkenloch, genau aus Zugrichtung der Wolken. Jetzt dürfen wir das erste Mal ernsthaft hoffen, auch die Totalität zu erleben. Nach gut fünf Minuten hat der Mond auch den letzten Sonnenfleck der großen Gruppen verschluckt.

12:08 Uhr. Im Südosten kreist über München ein Hubschrauber unter den Wolken. Wie mag es den Finsternishungrigen dort ergehen? Es ist kühler geworden. Ist das die Finsternis oder die heranziehende Kaltfront? An der Straße stehen fünf Autos. Die Leute campieren teils daneben auf dem Flugfeld, teils strömen sie zu uns.

Ich spreize die Finger, drehe die Hand hin und her und beobachte den Schatten am Boden. Richte ich die Finger parallel zur Sonnensichel aus, ist der Schatten schärfer als wenn die Finger im rechten Winkel dazu stehen.

Das Drama

Ein Blick nach Westen läßt mich bangen. In das rechteckige Wolkenloch steht ein Wolkenturm in Form eines Zahnes herein. Bitte lass´ den nicht gerade zur Totalität vor der Sonne stehen!

12:14 Uhr. Der Mond hat sich jetzt etwa zu drei Vierteln vor die Sonne geschoben. Am Luftdruck scheint sich nichts zu ändern. Leider kein Meßgerät habe ich für meinen Blutdruck und Puls.

Das Licht wird jetzt merklich fahler. Wolken, obwohl direkt von der Sonne angestrahlt, sind nur mehr hellgrau, nicht mehr strahlend weiß.

12:21 Uhr. Die Blätter einer nahestehenden Weide bilden tausende kleiner Lochkameras. Ein darunterstehender klobiger Holztisch ist dadurch übersät mit Sonnensicheln von vielleicht fünf Zentimetern Durchmesser.

12:22 Uhr. Der Wolkenturm hat uns jetzt erreicht und die Sonne verschluckt. Alle bangen nun, daß er noch vor der Totalität weiterzieht. Wenigstens das Ende der Totalität muß doch drin sein! Die Wolken haben das letzte Weiß verloren, zeigen nur noch unterschiedliche Grauschattierungen.

12:26 Uhr. Der Wind aus West wird stärker und gleichmäßiger. Viele schlüpfen jetzt in Pullis oder Jacken. Farbveränderungen am Horizont kann ich nicht erkennen. Im Westen ist immer noch das große Wolkenloch offen. Mensch, das muß doch noch kommen! Noch ist von der Sonne nicht direkt etwas zu sehen. Ihre Position verrät ein 22°-Halo in den Schleierwolken rechts vom Wolkenturm. Und es wird dunkler und dunkler. An der Straße sehe ich jetzt acht Autos stehen. Immer noch strömen Leute zu uns. Ich habe längst den Überblick verloren, wer von den Anwesenden zum Dunstkreis der AVWM gehört und wer nicht.

12:31 Uhr. Laffy beginnt einen lautstarken Countdown im 10-Sekunden-Takt. Die rechte Seite der Wolke wird heller. Und sie bewegt sich doch! Das Licht scheint, als wäre die Sonne vor einer halben Stunde untergegangen. Eine Gruppe macht sich auf zum Westende der Landebahn, versucht der Wolke zu entkommen.

12:32 Uhr. Da ist die Sonnensichel wieder. Jaaaaaaaaa! Wir haben Glück! Die Sichel füllt keine 180° des Sonnenumfanges mehr und schrumpft sichtbar. Immer aufgeregter werden die Stimmen rundum.

12:33 Uhr. Ein Schwarm Möwen sammelt sich und zieht gemeinsam ab. Gehen die schlafen? Das Licht ist unwirklich fahl mit einem Stich ins Gelb. Rechts neben der Sonne steht eine intensiv irisierende Wolke.

12:34 Uhr. Die Sichel ist so zart wie ein dünner Lidstrich, hat vielleicht noch 120°. Und wie schnell die Enden jetzt aufeinander zu wandern.

12:35 Uhr. Jetzt wird der Westhorizont deutlich dunkler als der östliche. Ich sprinte aufs Rollfeld und schaue nach Westen. Bin ich nur zu aufgeregt? Eine Verfärbung mag ich nicht erkennen. Zwischen den Wolken zeigt der Himmel ein fahles Hellblau. Im Osten stehen weiße Wolken, im Westen dreht jetzt jemand mit Machtdas Licht weg. Wie weit kann die Helligkeit denn noch sinken?

12:36 Uhr. Das Wolkenloch öffnet sich immer weiter über uns, nur noch ein paar Zirren umgeben die Sonne. Das Segment ist auf 90° geschrumpft, die Helligkeit sinkt rapide. Der Horizont wird rötlich, das Hellblau steht auf ca. 10° Höhe. Wie durch Watte höre ich Laffy "Noch zehn Sekunden" und sprinte zurück zu meinem Fernrohr. Ich reiße den Filter vom Objektiv und starre ins Okular. Die Totalität hat begonnen, Applaus kommt auf.

Totales Glück

Riesige Protuberanzen stehen zu beiden Seiten der Sonne. Im Westen ist es eine langestreckte, faserige Walze, auf die ich seitlich blicke, die an zwei Stellen stark verdichtet ist. Im Osten schwebt ein zartes L kopfüber neben dem Sonnenrand bis zu etwa 10% des Sonnendurchmessers.

Die Farben um die Sonne sind unwiklich. Neben dem Violett des Farbfehlers der Optik steht in einem milden Weiß die Korona. Darin eingebettet sind die Protuberanzen in einem Rosarot, das nach Violett tendiert. Das H-alpha-Rot eines Sonnenfilters ist eben nur ein Teil dieses Leuchtens.

Die Streamer der Korona sind recht gleichmäßig um die ganze Sonne verteilt. Gleißend hell erscheint die Korona, die für uns bestenfalls drei Grad mißt, bevor sie sich in den Zirren verliert.

Links neben der Sonne strahlt Venus durch eine schmale Lücke neben unserem abziehenden Wolkenturm. Rechts kann man Merkur ausmachen. Sterne können sich gegen die Zirren keine durchsetzen.

Ringsum herrscht helle Dämmerung. Vor dem pastellfarbenen Horizont stehen grau dünne Wolkenfetzen. Die Straßenlampen über der Scheibe-Halle sind jetzt angegangen. Ein paar Fotoapparate blitzen. Nur noch einige Zirren umgeben die Sonne. Was für ein Glück haben wir!

Wird es da im Westen schon wieder hell? Ein Blick auf die Brumi, den Atomuhrempfänger: 12:39:02 Uhr. Noch schnell ins Okular gelinst. Ich erhasche gerade noch die Chromosphäre, da blendet mich der erste Sonnenstrahl und ich drehe den Kopf weg. Auf die Sekunde pünktlich um 12:39:04 ist die Sonne wieder da.

12:42 Uhr. Genauso schnell wie das Sonnenlicht verloschen ist, kommt es jetzt wieder. Steigt auch die Temperatur schon wieder? Es ist wohl eher die Strahlung auf der Haut. Der Wind bläst immer noch gleichmäßig aus Westen. War das vorhin wirklich Finsterniswind?

12:46 Uhr. Noch ist nicht mehr von der Sonne zu sehen, als zu dem Zeitpunkt, als sich die große Wolke vor die Sonne schob. Aber mir kommt es schon richtig hell vor.

12:48 Uhr. Die Anspannung läßt nach, bei Vielen kommt spätestens jetzt Hunger auf. Ein Blick in die Runde ergibt: etwa einhundert Leute dürften wir sein, die jetzt teilweise aufbrechen.

12:58 – ca. 13:20 Uhr. Ab etwa einem Viertel Durchmesser bis zur Hälfte gibt der Mond wieder die Sonnenflecken frei. Aber das scheint außer mir keinen mehr zu interessieren. Die Show ist vorbei!

14:19 Uhr. Kaum ist die Sonnenfinsternis komplett vorüber ... regnet es!

Nachlese

Nach dem Abbauen sind wir nach Germering gefahren. Dort war auch schon weitgehend aufgeräumt. Publikum und Team dort hatten nicht soviel Glück wie wir. Die erste Hälfte der Totalität fand hinter Wolken statt und Regen gab es häufiger. Der Ansturm war gewaltig, eine vorsichtige Schätzung liegt bei mindestens 1000 Besuchern.

Zum Ausklang haben wir uns dann in eine Kneipe verzogen, Erfahrungen ausgetauscht und – Pläne geschmiedet. Die nächste, preiswert und ohne Gefahren erreichbare totale Sonnenfinsternis mit guten Wetteraussichten findet am 29.3.2006 z.B. im Norden der Türkei statt. Wer kommt mit? Anmeldungen bitte im Laufe von 2005 an mich!

Und wie ist es unseren beiden "Ausreißern" ergangen? Herbert hatte nicht ganz so viel Glück, hat immerhin die Totalität vollständig erleben dürfen. Und Peter in Ungarn am Plattensee? Von beiden gibt es eigene Berichte.